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Rechtsecke: Wann ist genug Laub unten?

17.11.2023 Thomas Dufner

Die Farbenpracht im Herbst bereitet nicht allen Freude. Erfahren Sie, wie Hans Immergrün seinem Nachbarn den Laubmarsch bläst.

Hans Immergrün studiert mit kampflustiger Miene den vor ihm liegenden Werbestapel für Laubbläser. Dieses Jahr wird er seinem Nachbarn Harzenmoser den Laubmarsch blasen. Immergrün wird die Blätter kurzerhand zurückblasen, die von den Nachbarsbäumen auf seinem Vorplatz landen. Soll Nachbar Harzenmoser sein Laub doch gefälligst selber in die Grünabfuhr geben.

HEV-Mitglied Immergrün konsultiert sicherheitshalber die telefonische Gratis- Rechtsauskunft seiner HEV-Sektion, um den bei seiner Blasaktion allenfalls aufmupfenden Harzenmoser sogleich mit Verweis auf die Rechtsauskunft in den Senkel stellen zu können. Während des Telefongesprächs verschwindet die Stirn von Immergrün immer mehr unter einem Berg von Runzeln. Seine Vorfreude über das rote Gesicht von Harzenmoser macht dem Gedanken Platz, ob er die Laubbläser-Werbeprospekte nicht besser gleich ins Altpapier geben soll.

«Übermässige» Immissionen sind verboten
Hintergrund des Stirnrunzelns ist der Hinweis der HEV-Rechtsauskunft, dass nur nach Ortsgebrauch übermässige Immissionen aus der Eigentumsausübung verboten sind. Mässige – das heisst normale – Einwirkungen müssen hingegen vom Nachbar-Eigentümer geduldet werden, auch wenn er diese selbst als störend empfindet.

Welche Einwirkungen als mässig oder übermässig zu beurteilen sind, wird vom Gericht mit einem weiten Ermessensspielraum entschieden. In diesem Zusammenhang nimmt es eine objektive Abwägung aller gegenläufigen Eigentümerinteressen vor und berücksichtigt dabei insbesondere die Lage und Beschaffenheit der involvierten Grundstücke sowie den Ortsgebrauch. Dabei ist jeder Einzelfall speziell zu beurteilen.

Immergrün wird darauf hingewiesen, dass gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ein Laubfall selbst von überragenden Ästen nicht als übermässige Immission qualifiziert wird, wobei im Bundesgerichtsfall unter anderem entscheidend war, dass im betroffenen Quartier praktisch alle Häuser von Bäumen umgeben waren und dies den Charakter des Quartiers ausmachte (BGE 131 III 505 ff.).

Zedern waren die Ausnahme
Immergrün schluckt schwer, als er deshalb aus seinem Telefonhörer die Botschaft vernimmt, dass Laubfall gemäss herrschender Lehre und Rechtsprechung im Regelfall eine zu duldende, da nicht übermässige Immission darstelle. Dies insbesondere auch, weil der Laubfall nur während einer verhältnismässig kleinen Zeitdauer im Jahr vorkommt. Anders ist von einem Gericht nur in einem Fall entschieden worden, wo es ganzjährlich zu einem anhaltenden Nadelfall von einer Gruppe von Zedern gekommen war und die harten Nadeln die Dachrinnen und Wasserabflussrohre der Nachbarliegenschaft regelmässig verstopft hatten.

Immergrün nimmt Äste ins Visier
Immergrüns Miene heitert sich im weiteren Verlauf des Beratungstelefonates doch noch etwas auf, als er vernimmt, dass das Verhalten von Harzenmoser nicht angängig war: Dieser hatte in den vergangenen Jahren nämlich die Blätter von seiner Zufahrtsstrasse einfach auf den Garagenplatz von Immergrün gewischt. Wenn schon Immergrün den Laubfall auf seinem Grundstück von den Bäumen von Harzenmoser dulden muss, muss das Harzenmoser erst recht.

Fast schon versöhnlich mit dem Zivilgesetzbuch (ZGB) wird Immergrün, als er hört, dass er von Harzenmoser die Entfernung der zwei auf sein Grundstück überragenden Äste verlangen darf. Die beiden hatten in den letzten Jahren immer mehr zu mickrigen Kopfsalaten und höchstens noch milchfarbigen Tomaten in seinem Gemüsegarten geführt, da für die Sonnenstrahlen im Blätterwerk der überragenden Äste Endstation war.

Der Telefonhörer ist noch nicht kalt, als Immergrün bereits an seiner Hermes-Schreibmaschine in die Tasten haut, dass die Funken nur so sprühen: Er fordert Harzenmoser mit klaren Worten auf, die überragenden Äste bis Ende März zu entfernen, ansonsten er dies, gestützt auf das ihm zustehende Kapprecht nach Artikel 687 ZGB, selber tun werde. Ein Leuchten blitzt in den Augen von Immergrün auf, als ihm auf dem Heimweg von der Post die Aktionswerbung der Landi für Motorsägen ins Auge sticht. Da ist die Welt für Immergrün wieder in Ordnung.
 

(Autor Thomas Dufner ist Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht und Rechtskonsulent des HEV Thurgau)